ich lass dich im alten jahr

"Ich hab auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen", stelle ich idiotischer Weise zum fünften Mal heute fest. "Mhm ich weiß, ich konnte nicht", murmelst du in einem kläglich scheiterndem Versuch, meinem Blick auszuweichen. "Du konntest was nicht?", bohre ich weiter, obwohl ich schon wieder in der Stimmung bin, dir das Physikbuch in meiner Hand über den Kopf zu ziehen. "Kommen", nuschelst du kaum verständlich, "Meine Mutter hat rumgestresst." Dein Unbehagen ist dir sichtlich anzumerken und ich rieche deine verdammten Lügen zehn Meter gegen den Wind. Komisch, dass ich deine Mutter an dem Abend noch gesehen habe. Eure Aussagen widersprechen sich heftig. "Achso, dann ist ja okay", fauche ich und will gerade auf dem Absatz kehrt machen, als du mich am Arm festhältst. "Warte, Mel." "Was ist?", knurre ich, bin heute überaus aggressiv. Seit ich dein Gesicht gesehen habe, haben sich Unmengen von Wut in mir aufgestaut. Aber nicht, weil ich so viel Wut auf dich habe, sondern eher, weil diese Schmetterlinge in meinem Bauch mich mal können. Am liebsten würde ich sie auskotzen, dir direkt vor die Füße. "Lauf nicht immer weg, wenn wir reden wollen", du siehst mich mit ernstem Blick an, in deinem Gesicht ist nicht die geringste Regung zu erkennen, dich scheint die ganze Sache außerordentlich kalt zu lassen. Das macht mich nur noch wütender, ich würde am liebsten auf irgendetwas einschlagen. Kommt wahrscheinlich davon, dass ich seit Silvester höchstens fünf Stunden Schlaf abbekommen habe. Oder einfach davon, dass du mich nach Strich und Faden belügst. Von beidem ein bisschen, denke ich. Das Problem ist nur, dass nicht ich diejenige bin, die vor den Aussprachen davon läuft. Du gehst mir seit Tagen aus dem Weg, redest nicht mehr in vollständigen Sätzen und grundsätzlich kann ich dir ja alles aus der Nase ziehen. "Ich dachte mir nur, ich gehe mal lieber, bevor du noch auf die Idee kommst, mir die Wahrheit zu sagen", murmele ich in meinen Schal, kneife die Augen leicht zusammen, weil du viel zu nah bei mir stehst. Unsere Gesichter berühren sich fast. "Ja okay, ich hab gelogen. Ich..", beginnst du, aber ich will die Folgenden Lügen gar nicht hören, schneide dir den Satz mit einem "Spar's dir. Du bist mir keine Erklärung schuldig, ich bin nicht deine Mutter." ab. Ich will mich von dir wegdrehen, doch du hältst mich fest, ziehst mich zu dir heran und siehst mir fest in die Augen. "Nein. Aber das Mädchen, dass ich liebe. Und ich habe es satt, dass wir uns benehmen, als wären wir Fremde. Oder gar Feinde." Von der Wut ist nur noch heiße Luft übrig, ich starre dir einfach in die Augen, bin nicht fähig, irgendetwas zu erwidern. "Ich vermisse dich", platzt es mir peinlicher Weise heraus. Du lächelst mich schwach an, und ich lächele, wider meiner ganzen Vorsätze, zurück. "Ich hab gehofft, du würdest das sagen", murmelst du, berührst mit deinem Zeigefinger meine Lippen. Ich schließe die Augen, lehne meinen Kopf an deine Brust. Der Pausengong ertönt, reißt mich gewaltsam aus meiner kleinen Traumwelt und schleudert mich zurück in die Realität. "Bis dann", du drückst deine Lippen sanft auf meine Stirn und verschwindest.