ich lass dich im alten jahr

Er nutzt den Moment meiner mehr oder weniger Unzurechnungsfähigkeit aus. Ich kann es ihm noch nicht mal verübeln - wahrscheinlich hätte ich in seiner Situation genauso gehandelt. Aber obwohl, meine zukünftigen Handlungen kann man in letzter Zeit nur mit vagen Vermutungen bestimmen, ich tue nämlich manchmal Dinge, von denen ich niemals gedacht hätte, dass ich dazu ihm Stande wäre.  Mein Kopf ruht auf seinen Schoß, seine Hände streichen in gleichmäßigen Bewegungen über mein Haar, massieren sanft meinen Nacken. Er lächelt mich mit seinem warmen Lächeln an, welches mich sofort zum zurücklächeln ermutigt. Ohne großen Aufwand zieht er mich zu sich hoch und ich gleite in seine Arme. Diese Geste wirkt angenehm, so vertraut irgendwie. Er bringt mich in unregelmäßigen Abständen zum Lachen, versucht, mich aus meiner betrübten Stimmung zu ziehen. Bevor ich mich besinne, was eigentlich geschieht, liegen seine Lippen warm und fordernd auf meinen. Es ist nicht wie bei dem letzten Kuss, vor ein paar Wochen, als ich ihn halb niedergeschlagen habe, als ich wusste, was er vor hat. Diesmal merke ich keine Zurückhaltung bei ihm. Vielleicht liegt es daran, dass wir schon den ganzen Tag zusammen verbringen, oder daran, dass ich mich nicht währe. Erst jetzt sickert in meinen Verstand, dass ich ihn sogar zurückküsse, und ich löse mich augenblicklich aus seinem Griff. Jakob will sich wieder vorbeugen, unsere Lippen berühren sich fast, aber ich schließe die Augen und weiche ein Stück zurück, schüttele mit dem Kopf.  "Melissa, du hast nichts zu verlieren", er berührt meine hitzige Wange.  "Justin" ist das einzige was ich mit einem erstickten Laut herausbringe. Jakob weicht ebenfalls ein Stück zurück, wittert aber eine neue Chance, indem er seine nächsten Worte sorgfältig wählt. "Mel, ihr habt seit Wochen nicht gesprochen. Ihr sagt euch ja nicht mal mehr Hallo. Denkst du im Ernst, das ist noch eine Beziehung? Denkt du wirklich, es würde ihm noch etwas ausmachen, wenn du dich neu umsiehst?"  Ja, denke ich, er liebt mich nämlich noch. Ich weiß es. Als könnte Jakob Gedanken lesen, fügt er noch "Du denkst doch nicht etwa, du bedeutest ihm noch irgendwas?" hinzu. Das hat gesessen. Seine Worte treffen mich wie Messerstiche. Doch bevor ich etwas erwidern kann, presst er seine Lippen schon wieder auf meine. Diesmal kommt es mir fehlt am Platz vor, regelrecht widerlich. Ich stoße sein Gesicht weg, "Das ändert nichts an meinen Gefühlen für ihn, Jakob." "Aber das kann ich ändern. Wir können es. Wir gehören zusammen, Melissa, schon immer." Diese Art, wie er sich verzweifelt an etwas klammert, was nie sein wird, lässt mich zurückschrecken. Das kann er nicht ernst meinen. Ich spüre, wie die Wut in mir aufsteigt. "Was willst du von mir, Jakob?", fauche ich ihn an, "Denkst du ehrlich, wir beide werden irgendwann zusammen sein? Denkst du, ich liebe dich? Tja, da muss ich dich leider enttäuschen." Ruckartig steht er auf, "Es war mir klar, dass ich nicht gut genug für dich bin. Das war ich noch nie." Meine Wut verpufft augenblicklich. "Das stimmt nicht", meine Stimme ist kaum ein Flüstern.  Sein Blick ist plötzlich unendlich traurig, "Mach dir nicht die Mühe."  Ich presse die Lippen aufeinander, um nicht weinen zu müssen, "Ich will nur Justin, weißt du. Er war es schon immer und er wird es immer sein." Erst jetzt merke ich, was meine Worte anrichten. Obwohl ich ihn nicht belügen möchte, wünsche ich mir, ich könnte die Worte rückgängig machen. "Jakob.." Doch er ist schon an der Tür, bereit, mich zu verlassen. Plötzlich reift ein unheimlich egoistischer Gedanke in mir an. Er darf nicht gehen, er darf mich nicht auch noch verlassen, egal was es koste.  "Würdest du", setze ich an und er bleibt stehen, "bei mir bleiben, wenn ich dich darum bitte?" Er bemüht sich, gefasst zu klingen, doch ich erkenne den inneren Kampf, der wohl gerade in ihm tobt, obwohl er mich nicht ansieht. "Nein", sagt er und lässt mich ohne weiteres mit meinen Tränen alleine zurück.