#70

"Jakob!", rufe ich und halte ihn am Arm fest, kurz bevor er sich wieder aus dem Staub machen kann. "Was?!", murrt er im umdrehen, lächelt aber leicht, wenn auch unsicher, als er mich sieht, "Hallo, Mel." "Gehst du mir aus dem Weg?", frage ich direkt, weil ich keine Lust mehr habe, um den heißen Brei herum zu reden. "Hä?", fragt er, viel zu schlecht gespielt, um mich mit seiner aufgesetzten Unschuldsmiene zu täuschen. "Du hast schon verstanden." Er reißt seinen Arm unsanft los, "Ich weiß nicht was du meinst." Ich seufze leise und deute auf die losen Baumstämme am Schultor, die als Sitzgelegenheiten dienen, "Können wir reden?" "Von mir aus", nuschelt er und läuft schweigend neben mir zu den Baumstämmen. In den Abstand, den er zu mir hält, hätte man locker ein Auto parken können. Ich lasse mich auf einem der großen Stämme nieder und sehe Jakob erwartungsvoll an. Unsicher sieht er von einem Stamm weiter entfernt zu mir, scheint kurz zu überlegen, ob er sich so weit wie möglich wegsetzen sollte, lässt sich dann aber doch in sicherem Abstand neben mir fallen. Ich finde das alles so lächerlich, sehe ihn eindringlich an. "Was ist?", fragt er genervt und starrt auf den Boden. Ich gehe auf seine scheiß Laune gar nicht erst ein, sondern rutsche näher zu ihm heran, so, dass unsere Arme sich fast berühren. Sein Körper versteift sich sichtlich, ich runzle die Stirn, beachte aber seine Reaktion nicht weiter. "Ich warte", sage ich schließlich. "Worauf?" "Eine Erklärung", erwidere ich laut, ohne den Blick von ihm abzuwenden, "Und tu bitte nicht so, als wüsstest du nicht, was ist." "Mh", macht er nur. "Jakob, verdammt", motze ich. "Was willst du von mir, Mel?", knurrt er zurück. "Wie gesagt, eine Erklärung", entgegne ich, nun nicht mehr so ruhig. "Aha", kommt nur. Ich verdrehe genervt die Augen, "Was ist nur los mit dir? Wir waren mal unzertrennlich, was ist mit unserer Freundschaft passiert?" "Dinge ändern sich", murrt er, aber ich merke, wie er sich langsam entspannt. "Ich vermisse dich", sage ich leise, trete leicht einen kleinen Stein von mir weg und wende meinen Blick ebenfalls dem Boden zu. Er seufzt laut, sieht mich endlich, das erste Mal heute, richtig an, "Man Melli, ich vermisse dich doch auch.." "Aber?", unsere Blicke treffen sich, er sieht wieder schnell auf den Boden, ich tue es ihm reflexartig nach. "Das ist alles nicht so leicht, in letzter Zeit", murmelt er und scharrt mit einem Fuß das Laub vor uns hin und her. Ich lasse nicht locker. "Das heißt?", hake ich nach. "Egal", sagt er, "Es hat sich nur viel verändert, seit Lucy in unserer Klasse ist." Ich muss ein hysterisches Lachen unterdücken. "Du meinst, seit du mit Mrs. Fick-mich zusammen warst?", sage ich trocken. Ich höre, wie er laut Luft holt, "Ja. Ich war damals scheiße zu dir, das tut mir leid." "Schon gut", winke ich ab. "Und jetzt ist sie mit Lukas zusammen", fährt er fort. Ha, zusammen, wenn ich nicht lache. Das einzige, worum es geht, ist Sex. "Und du liebst sie noch", das war eher eine Feststellung, als eine Frage, aber er antwortet schnell und mit sicherer Stimme. "Nein. Ich hab sie nie geliebt." Ich mustere ihn überrascht und skeptisch zugleich, diesmal erwidert er meinen Blick. Sein Gesichtsausdruck ist unergründlich, ich ziehe eine Augenbraue nach oben. "Was ist dann?", frage ich. "Nichts", sagt er und steht auf, ohne den Blick von mir abzuwenden, "Ich muss gehen." Er gibt mir einen flüchtigen, aber sanften Kuss auf die Wange und verschwindet, bevor ich etwas sagen kann.

"Aha", sage ich zu mir selbst und trotte genervt zu meiner Schultasche, krame meine Zigaretten heraus und zünde mir, mitten auf dem Schulhof, eine an. Mir doch scheiß egal, was hier gleich abgeht, wenn das die Lehrer sehen. Ihr könnt mich mal, alle.